Herr Dr. Andrick, „Ich bin nicht dabei“ heißt Ihr neues Buch. Wobei?
Michael Andrick: Zum Beispiel bei den großen Leiterzählungen: Was immer meine Mitbürger gerade für wichtig oder sogar für „alternativlos“ halten – ich mache mir keine Agenda zu eigen.
Warum nicht?
Andrick: Ich bin Philosoph. Mein Handwerk ist, das Feld der öffentlichen Diskussion begrifflich und gedanklich zu ordnen. Das geht nur mit dem Blick von außen. Ich versuche zu erfassen, was geschieht und was es bedeutet. Und ich widerspreche dem, was ich für Unsinn oder Unrecht halte. Das drückt sich in allen Texten meines neuen Buchs aus und auch in den Aphorismen, die ihnen beigesellt sind.
Das nicht hinterfragende „Dabeisein“, also das politische Mitlaufen, gefährdet unsere Demokratie, so eine zentrale These Ihres Buchs. Inwiefern?
Andrick: Von „unserer“ Demokratie zu reden ist falsch und Anmaßung. In einer Republik gehört die Regierungsform der ganzen Bevölkerung. Es gibt kein privilegiertes Grüppchen, das die Demokratie als die „ihre“ bezeichnen dürfte. Daß die selbsternannten „demokratischen Parteien“ die Demokratie rhetorisch für sich allein beanspruchen, dient meines Erachtens allein der Verteufelung von Konkurrenzparteien als „undemokratisch“.
Andrick: „Wer im Besitz ‘der Wahrheit’ ist, kann keine Kompromisse machen“
Wie tief ist denn die Krise der Demokratie hierzulande?
Andrick: Das ängstliche Mitlaufen mit moralisierten Narrativen hat die Sachdiskussion faktisch beendet. Das Gerede vom „Kampf“ gegen den angeblich inneren Feind – die systematisch undefinierte „extreme Rechte“ –, den vom neuen Außenminister Johann Wadephul soeben für immerwährend erklärten äußeren Feind Rußland und natürlich gegen die angeblich katastrophale Veränderung des ganzen Ökosystems im Klimawandel bildet das ideologische Ruhekissen eines erratischen Regierungshandelns.
Wer etwa die ruinöse deutsche Energiepolitik grundsätzlich ablehnt oder für Frieden mit allen europäischen Nachbarn plädiert, dessen Argumente werden mit dem Hinweis auf „Klimaleugnung“ oder „Verharmlosung auswärtiger Diktatoren“ pauschal ignoriert. Dahinter steht das Prinzip, sich dem Kontakt zur Wirklichkeit zu verweigern, wo eine Verletzung der Leiterzählung droht. Das aber ruiniert das Sozialklima in Deutschland, und es wird letztlich auch die Wirtschaft durch ideologische Einmischungen wie die „Energiewende“ in den Ruin führen.
Sie gehen im Buch mit Ihrer Kritik noch weiter und warnen, daß all das nicht weniger als eine „Aufkündigung der Republik“ bedeute.
Andrick: Ja, denn mache ich Menschen mit abweichender politischer Meinung durch Schmähbegriffe wie „unsolidarisch“, „Putinknecht“ oder „Klimaleugner“ verächtlich, drücke ich damit aus, daß ich mit ihnen nichts gemeinsam zu regeln habe. Sie sind dann einfach Feinde, die ich in Schach halten muß, aber keine Mitbürger. Insofern wird ihnen die Republik, also die gemeinsame Gestaltung der Öffentlichkeit, aufgekündigt. Dem verwandt ist das Bestreben, in der Politik „die Wahrheit“ durchsetzen zu wollen.
„Unsere diskursive Monokultur verdummt und macht realitätsblind“
Inwiefern? Was ist denn aus Ihrer Sicht das Wesen einer Republik und was ist ihr Verhältnis zur Wahrheit?
Andrick: In der Politik einer Republik geht es um den Interessenausgleich unter Gleichberechtigten. Deshalb spielt in den politischen Debatten freier Gesellschaften faktisch immer systematisches Lügen, Verdrehen und Vereinseitigen eine große Rolle: denn es geht darum, den Eindruck zu erwecken, das eigene Interesse sei identisch mit dem Gemeininteresse. Darüber habe ich in einigen Texten von „Ich bin nicht dabei“ detaillierter nachgedacht.
Wenn aber nun die eigene Politik nicht mehr als Beitrag zu diesem dynamischen Geschehen des Interessenausgleichs verstanden wird, sondern als Durchsetzung „der Wahrheit“, dann entsteht eine fatale Dynamik: Wer „die Wahrheit“ innehat, der kann keine Kompromisse machen, denn das würde ihn ja zum Verräter an der Wahrheit machen.
Was ist die Folge?

Andrick: Eine Fanatisierung der politischen Auseinandersetzung – bis hin zur Anwendung von Gewalt gegen Menschen, wie in den übergriffigen Corona-Maßnahmen, und gegen Sachen, wie etwa in den barbarischen Akten der Kunstbeschädigung durch angstverdummte Klimafanatiker.
Ist das die Fundamentalisierung der Politik, die Sie bereits in Ihrem vorherigen Buch, dem Bestseller „Im Moralgefängnis. Spaltung verstehen und überwinden“, diagnostiziert haben?
Andrick: Das eine führt zum anderen: Als „Moralgefängnis“ bezeichne ich das aktuelle Gesellschaftsklima. Wie Umfragen zeigen, hat die Mehrheit der Menschen Angst, infolge einer nicht mit der Regierung und ihren Loyalisten konformen Meinungsäußerung als quasi „böse“ gebrandmarkt und ausgeschlossen zu werden.
Das führt in der Breite zum Verweigern der Diskussion und zur Radikalisierung der politischen Mitte: Denn wenn vor lauter Äußerungsangst im Leitdiskurs immer nur dieselben Floskeln vom „total wichtigen Klimawandel“, von „Putins Angriffskrieg“ und der „Gefahr des Rechtsradikalismus“ hin- und hergewendet werden, weil nur diese den Diskutanten als wirklich gefahrlos erscheinen, dann schrumpft die Breite der tatsächlich geäußerten Ansichten und Informationen zusammen.
Und diese fehlende Pluralität läßt dann die Anhänger der am meisten veröffentlichten Ansichten und Positionen glauben, sie hätten die „unumstrittene“, „alternativlose“ Wahrheit auf ihrer Seite: Schließlich hören sie nichts anderes, und wer abweicht, erscheint diskursoptisch leicht als Anhänger einer „kleinen Minderheit“ oder gar als „Verschwörungserzähler“, wie das dann heißt.
Diese diskursive Monokultur verdummt schließlich die gesamte Gesellschaft und macht sie realitätsblind. Ein Industrieland aber, das den Kontakt zur Wirklichkeit des Marktes und der technologischen Entwicklung verliert, wird absteigen und verarmen.
„Unkontrollierte Machtausübung führt immer zu ‘Menschenfresserei’“
Ein Text in Ihrem neuen Buch heißt „Spaltung lebt vom Mitmachen“.
Andrick: Ja, Spaltung sollte als Arbeitsvorgang begriffen werden, an dem viele Menschen, oft unabsichtlich, mittun. Das Kerngeschehen ist Moralisierung: Politische Ansichten werden zum Kennzeichen schlechter Charaktereigenschaften desjenigen umgedeutet, der sie äußert. Die unterschiedlichen Spielarten von Moralisierung sind ein großes Thema meines Denkens und meiner Bücher.
Welche Rolle spielen dabei die, wie Sie sie nennen, GONGOs – und worum handelt es sich dabei?
Andrick: Jeder kennt den Begriff NGO – mit dem Ausdruck eines meiner Leser gesprochen sind viele von ihnen GONGOs: „Government-Operated“ Non-Governmental Organizations, das heißt von der Regierung betriebene NGOs. Sie sind Vorfeldorganisationen des Parteienkartells „Demokratische Mitte“ oder „Unsere Demokratie“, also Vereine und Verbände, die ideologisch mit ihm auf Linie sind und Geld von ihm nehmen.
So ist sichergestellt, daß ihr angeblich „zivilgesellschaftliches“, tatsächlich aber amtsunterstütztes „Engagement“ gegen Wasauchimmer – den Klimawandel, die „Rechten“, „Haß und Hetze“ etc. – einfach ein Auf-die-Straße-Tragen der Machterhaltungsstrategie des Parteienkartells „Demokratische Mitte“ darstellt. Dafür gibt es dann Preise für „Mut“ und „Courage“ und dergleichen mehr, ausgehändigt von den Zahlmeistern selbst – den selbsternannten Guten und Gerechten „unserer Demokratie“.
Im Buch machen Sie Ihre Analyse stark an der Corona-Politik fest. Aber ist der Verfall der Republik nicht schon seit Beginn des „Kampfs gegen rechts“ wirksam?
Andrick: Die Corona-Maßnahmenkrise mit ihren staatlich konzertierten, von den meisten Presseorganen unterstützten und von fast allen Staatsangestellten an Kindern, Alten, Kranken und Gewerbetreibenden bruchlos exekutierten Menschenrechtsverletzungen waren ein Fanal. Sie zeigten, daß unkontrollierte Machtausübung am Ende immer zu Menschenfresserei führt.
„Menschenfresserei“?
Andrick: Ich nenne es Menschenfresserei, wenn das Glück, die Gesundheit, ja das Leben von Mitbürgern der ideologischen Phantasie einer kleinen Gruppe hingeopfert wird. So war es in der Corona-Zeit: Es wurde für jeden, der seine sechs Sinne beieinanderhat, unabweisbar deutlich, daß es in Deutschland kein Korrektiv zur Regierungsmacht gibt. Wir haben politisch kontrollierte Staatsanwaltschaften, ein CDU-SPD-Grüne-Verfassungsgericht mit einem Karrieristen der Merkel-Jahre an der Spitze und obere Bundesbehörden wie RKI und Paul-Ehrlich-Institut mit Ministern unterstellten Parteiloyalisten in den Chefsesseln.
Und der Journalisten-Mainstream trieb die Regierungen in moralbesoffener Selbstbegeisterung mit Extremforderungen vor sich her, statt kritische Fragen zu stellen. Daß jetzt wieder die Tagesschau und die Süddeutsche Zeitung ihre langjährigen innerredaktionellen Regierungssprecher über einen schmalen Flur in die Ministerbüros schicken, paßt in dieses Bild.
„Die Aufhetzung der Bürger gegeneinander“
Wie haben Sie sich denn seit 2000, dem Jahr des offiziellen Beginns des „Kampfs gegen Rechts“, diesem gegenüber verhalten?
Andrick: Mit Verlaub, diese Frage finde ich unsinnig. Wollen Sie die JUNGE FREIHEIT als Verteidigerin einer irgendwie definierten „Rechten“ aufstellen? Mit mir haben Sie keinen Verteidiger der „Rechten“ zum Interview geladen, ebenso wie ich nicht pauschal die „Linke“ und ihre Positionen stütze. Ich spreche mit Ihnen, weil ich in Ihrem Blatt immer wieder einfach guten Journalismus und gekonnt artikulierte Standpunkte lese, von denen ich manche verkehrt und andere einleuchtend finde – guter Diskurs eben.
Gesäßgeographie à la links und rechts und die Frage, wer da gegen wen „kämpfen“ mag, überlasse ich denen, die damit ihre dünne Suppe kochen. Mir liegt allein am Herzen, daß wir Demokratie als friedliche Streitverwaltung begreifen, in der alle Seiten sich ohne Angst äußern können. Und deswegen arbeite ich als Publizist mit Ihnen genauso wie mit linken Zeitungen und sich selbst als „mittig“ sehenden ÖRR-Anstalten.
Wollen Sie denn abstreiten, daß der „Kampf gegen Rechts“ politisch bedeutsam ist?
Andrick: Nein, das war und ist eine Spielart des Machtkampfs in Deutschland. Nur: Einen staatlich organisierten Kampf gegen eine Seite des legalen politischen Meinungsspektrums ist einfach steuerfinanzierter Wahlkampf für die aktuellen Regierungsparteien. In Äußerungen, die AfD-Anhänger pauschal zu „Nazis“ erklären, sehe ich persönlich zudem Aufhetzung der Bürger gegeneinander und eine Verharmlosung des Tuns der historischen Nazis. Aber kein schwarz-rot-grüner Justizminister wird „seinen“ Staatsanwälten jemals erlauben, hier auch nur einen Anfangsverdacht zu entwickeln.
„Verfassungsschutz: Agentur zur Diffamierung der Opposition“
Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die Rolle des Verfassungsschutzes?
Andrick: Er ist eine nach innen gerichtete Agentur, deren Chefs direkt den Innenministern verantwortlich sind. Die Behörde soll „Bestrebungen“ aufspüren, die sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung und die Demokratie richten. Das bedeutet faktisch, daß es sich beim Verfassungsschutz um eine Regierungsagentur zur Diffamierung der Opposition handelt.
Jede andere Einschätzung halte ich für machtpolitisch naiv. Denn die Kriterien, nach denen eine verfassungsfeindliche „Gesinnung“ festgestellt werden kann, wird kein Innenminister aktuell regierender Parteien mit „seinem“ Verfassungsschutzpräsidenten so festlegen, daß etwa die Menschenrechtsverletzungen der Corona-Zeit durch die aktuellen Regierungsparteien ins Visier geraten. Es stellt sich doch die Frage: Warum nur existieren stabile demokratische Ordnungen in vielen Dutzend Staaten, aber nur Deutschland und Österreich haben diese eigenartigen Sonderagenturen zur Ausforschung der „Bestrebungen“ der Bevölkerung?
Und warum?
Andrick: Ganz einfach: weil niemand den Verfassungsschutz braucht. Im Gegenteil, spätestens seit dem das teils lachhaften elfhundertseitigen Assoziationsbingo-Pamphlet, das jetzt unter dem Titel „AfD-Gutachten“ zirkuliert und etwa unterstellt, das AfD-Motto „Alice für Deutschland“ sei eine Adaption des Nazi-Slogans „Alles für Deutschland“, sollte jedem Mitbürger vor Augen führen, womit man es beim Verfassungsschutz zu tun hat.
Wie geht das aus?
Andrick: „Unsere Demokratie“ hat sich mit der größten Schuldenermächtigung der deutschen Geschichte, die in offener Verachtung des bereits erklärten Wählerwillens durchgetrickst wurde, für eine, zwei weitere Legislaturen den Kontakt mit der Wirklichkeit erspart.
Auch die „Zivilgesellschaft“ wird weiter staatsfinanziert, ebenso wie die ideologischen Unsinnsprojekte der „Energiewende“ und der Aufrüstung. Demokratie wird aber erst in Gänze möglich, wenn Gewaltenteilung eingeführt, die Besetzung hoher Posten in Kultur und Verwaltung vom Parteienkartell entflochten und der ÖRR unter direkte Bürgerkontrolle gestellt wird.
Bis dahin sind wir Halb-Bürger einer leidlich vor sich hin wurstelnden parlamentarischen Ordnung mit viel Freiheit und Rechtssicherheit im Alltag und Halb-Untertanen eines Parteienkartells. Dessen Angehörige und Loyalisten können im selbsterklärten ideologischen Ernstfall mit uns weitgehend tun, was sie wollen, und sie müssen für mögliche Verbrechen kaum Strafverfolgung fürchten.
Dr. Michael Andrick. Der Philosoph, Publizist und Kolumnist der Berliner Zeitung schrieb unter anderem für die Welt und Wirtschaftswoche, den Cicero und Freitag sowie das konservative Cato. Magazin für neue Sachlichkeit oder den Deutschlandfunk. Er veröffentlichte zudem die Bände „Göttlicher Wille und menschliche Macht“ (2010) und „Erfolgsleere. Philosophie für die Arbeitswelt“ (2020), in dem der 1980 in Hannover geborene Denker die Industriegesellschaft analysiert.
2022 erhielt er den Jürgen-Moll-Preis für verständliche Wissenschaft, und 2024 sorgte sein „brillanter“, so der Medienwissenschaftler Michael Meyen, Bestseller „Im Moralgefängnis. Spaltung verstehen und überwinden“ für Aufmerksamkeit. Nun ist im Wissenschaftsverlag Karl Alber sein neues Buch erschienen: „Ich bin nicht dabei. Denk-Zettel für einen freien Geist“.